Fiktiver Schaden ist mehr als der Mindestschaden!
(02.09.2022) Wird der kaufvertragliche Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung (kleiner Schadensersatz) gem. § 437 Nr. 3, §§ 280, 281 BGB anhand der voraussichtlich erforderlichen, aber (noch) nicht aufgewendeten ("fiktiven") Mängelbeseitigungskosten bemessen, hat das Gericht eine Schadensermittlung nach den Grundsätzen des § 287 Abs. 1 ZPO vorzunehmen und insoweit zu prüfen, in welcher Höhe ein Schaden überwiegend wahrscheinlich ist; das gilt auch und gerade dann, wenn in einem Sachverständigengutachten eine Schätzungsbandbreite (hier: +/- 30%) genannt wird, so der BGH, Urteil vom 11.03.2022 - V ZR 35/21.
Der Verkäufer verkauft im Jahr 2015 ein bebautes Grundstück. Das 1924 errichtete Bauwerk wurde in den Jahren 2000 bis 2002 saniert. Der Verkäufer erweckt den Eindruck, dass das Gebäude vollständig saniert worden ist. Das trifft nicht zu; der Keller ist weder horizontal noch vertikal vollständig abgedichtet. Wegen dieser Täuschung darf sich der Verkäufer nicht auf den vereinbarten Gewährleistungsausschluss berufen. Er schuldet Schadensersatz. Das Berufungsgericht verurteilt den Verkäufer i.H.v. 97.244 Euro. Der Sachverständige habe die Sanierungskosten auf 138.920 Euro mit einer Schätzungsbandbreite von +/- 30% geschätzt. Unsicherheiten bei der Bemessung des fiktiven Schadensersatzes dürften nicht zu Lasten des Schädigers (hier: des Verkäufers) gehen. Es könne nur der sicher entstehende Mindestbetrag zugesprochen werden (138.920 Euro abzüglich 30% = 97.244 Euro). Gegen diese Entscheidung wendet sich der Käufer, der Schadensersatz in Höhe der Sanierungskosten von 138.920 Euro begehrt. Mit Erfolg?
Ja! Der Käufer darf den Schadensersatzanspruch anhand der voraussichtlich erforderlichen, aber noch nicht aufgewendeten Mängelbeseitigungskosten bemessen, sog. fiktiver Schadensersatz (IBR 2021, 266). Der Schaden und somit die voraussichtlichen Kosten der Mängelbeseitigung sind zu schätzen (§ 287 Abs. 1 ZPO). Bei der Schätzung war das Berufungsgericht zu streng. Es will nur den (sicheren) Mindestschaden zusprechen. Damit legt das Berufungsgericht letztlich den Beweismaßstab des § 286 ZPO an, indem es Gewissheit zur Schadenshöhe fordert. Gemäß § 287 Abs. 1 ZPO kommt es aber nur darauf an, ob der Schaden überwiegend wahrscheinlich ist. Auch liegt es in der Natur der Sache, dass bei einer fiktiven Schadensberechnung eine gewisse Unsicherheit verbleibt, ob der im Vorhinein zugesprochene Betrag den tatsächlichen Kosten im Falle der Mängelbeseitigung entspricht. Wenn in einem Gutachten eine Schätzungsbandbreite angegeben ist, müssen Feststellungen dazu getroffen werden, welcher Betrag innerhalb der Schätzungsbandbreite eher wahrscheinlich ist.
Der Fall zeigt anschaulich das Dilemma der Bemessung des Schadens nach den fiktiven Kosten der Mängelbeseitigung. Großzügigkeit belastet den Schädiger und bereichert den Geschädigten (er muss anders als über Vorschuss nicht abrechnen). Strenge bei der Zumessung entlastet den Schädiger und belastet den Geschädigten. Allerdings: Der Geschädigte kann sich durch einen Feststellungsantrag die Möglichkeit der Nachforderung sichern. Der Schädiger hat dagegen keine Möglichkeit, sich eine Rückforderung für den Fall vorzubehalten, dass die tatsächlichen Kosten der Mängelbeseitigung geringer als prognostiziert ausfallen. Die für das Werkvertragsrecht entwickelte Lösung des VII. Zivilsenats (IBR 2018, 196; IBR 2020, 636), die Bemessung des Schadens nach den fiktiven Kosten der Mängelbeseitigung aufzugeben und den Besteller auf den Vorschussanspruch zu verweisen, vermeidet diese Disparität. Die "Segelanweisung", genauere Feststellungen zum voraussichtlichen Schaden zu treffen, wird schwer umzusetzen sein. Die Kosten von Abdichtungsmaßnahmen sind typischerweise nur ungenau zu prognostizieren und der Sachverständige wird nicht ohne Anlass die recht große Spanne von +/- 30% in den Raum gestellt haben.